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Vorstiegsklettern, Rotpunkt und Co. – Die Begehungsstile beim Klettern
Begriffe und Aussagen, wie Rotpunkt, Vorstiegsklettern und „die Route habe ich geflasht“ machen für dich keinen Sinn?
Ist das vielleicht bloß Kauderwelsch, Anglizismus oder sogar Teufelszeug?
Keine Sorge. Es handelt sich um ganz normale Begriffe im Klettersport, wie Handicap beim Golf oder Homerun beim Baseball. Es geht um Begehungsstile beim Klettern und wann eine Route als wirklich geschafft gilt.
Finde in diesem Artikel heraus was aktuell ethisch erlaubt ist, wen das interessiert und woher diese Begriffe überhaupt kommen.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Vorstiegsklettern, Rotpunkt und Co. – Die Begehungsstile beim Klettern
- 1.1 Freiklettern und technisches Klettern – Oldschool vs. Newschool?
- 1.2 Rotpunkt Klettern – die Basis des modernen Klettersports
- 1.3 Der feine Unterschied zwischen Freiklettern, Free Solo und free climbing
- 1.4 Vorstiegsklettern, Toprope und Co. – Begehungsstile im Freiklettern
- 1.5 Ein Blick in die Vergangenheit: Die antiquierten Begehungsstile Yoyo und a. f.
- 1.6 Sonderform: Headpoint im Tradklettern
Freiklettern und technisches Klettern – Oldschool vs. Newschool?
Die wichtigste Unterscheidung der Begehungsstile beim Klettern liegt in den zwei gegensätzlichen Welten von Freiklettern (eng. free climbing) und technischem Klettern (eng. aid climbing).
Beim Freiklettern benutzt man nur Hände und Füße, um sich an den Haltepunkten, die der Fels bietet nach oben zu bewegen. Das sagt erstmal nichts über den Einsatz von Kletterseil und Sicherungen aus. Im Unterschied dazu wird beim technischen Klettern mithilfe von gebohrten und geschlagenen Haken, Trittleitern und mobilen Sicherungsgeräten gearbeitet, um zum Gipfel zu gelangen.
Technisches Klettern
Technisches Klettern ist eine Symbiose aus Handwerk, Mut und Ingenieurskunst. Heutzutage gibt es nur noch wenige Leute, die sich mit dem technischen Klettern allein identifizieren. Häufig wird es eingesetzt um hohe Wände zu bezwingen in denen aufgrund von Wetterverhältnissen oder fehlenden Haltepunkten kein Freiklettern möglich ist.
Beim technischen Klettern gibt es fünf Schwierigkeitsgrade von A0 bis A5, wobei das A für Aid steht. Unter A0 kann man sich eine Linie mit gebohrten Haken vorstellen von denen immer jeweils der nächste in Reichweite liegt um sich daran hochzuziehen, sodass weder besondere Gefahr oder Erfahrung Teil des Ganzen sind. Im Kontrast dazu geht man in einer Passage, die mit A5 bewertet ist, davon aus, dass bei einem Sturz alle gelegten Sicherungen ausreißen mit möglicherweise fatalen Folgen.
Freiklettern
Das Handwerk des technischen Kletterns hatte sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts soweit entwickelt, dass man mit nur genügend Bohrhaken jede Wand hochkam. Das Abenteuer war gestorben und das aufkommende Freiklettern läutete das Ende dieses „Eisenzeitalters“ ein.
Den Gedanken des Freikletterns gab es wohl schon seit mindestens dem 19. Jahrhundert und er tauchte immer wieder anderswo an der Oberfläche auf. Ein früher Verfechter war Paul Preuss. Die großen Wände der Alpen wurden allerdings überwiegend technisch erstbegangen und dafür trainierte man technisches Klettern in den heimischen Mittelgebirgen, wie dem Frankenjura oder Pfalz.
In den 1970er Jahren reiste der junge Franke Kurt Albert gelangweilt von der sterbenden Herausforderung im technischen Klettern in die USA und nach Sachsen. In der sächsischen Schweiz gab es seit Beginn des Jahrhunderts festgeschriebene Regeln des Freikletterns. Diese Ideen aus seiner Heimat übertrug der ausgewanderte Sachse Fritz Wiessner auch auf seine Klettereien in Amerika, woraus sich auch dort früh eine Freikletterbewegung entwickelte.
Ebenso wurde auch in England zu dieser Zeit schon freigeklettert. Völlig unberührt davon wurde in den Wäldern von Fontainebleau schon seit Jahrhunderten gebouldert. Bouldern ist auch eine Form des Freikletterns.
Inspiriert von den Erlebnissen auf seinen Reisen brachte Kurt Albert den Gedanken des Freikletterns wieder mit zurück in das heimische Franken. Er fing an bisher technisch-bekletterte Routen im Freikletterstil zu zu befreien und markierte diese dann mit einem roten Punkt.
Rotpunkt Klettern – die Basis des modernen Klettersports
Oberhalb des Namens „Power of Love“ erkennt man den roten Punkt von Kurt Albert
Aus diesem neuen Stil entwickelte Kurt Albert später die Rotpunkt-Definition. Diese besagt, dass eine Route als geschafft gilt, wenn sie im Vorstieg und ohne Belasten der Sicherungskette (Haken etc.) geklettert wird. Die neue Sichtweise wurde zum gültigen weltweiten Standard und ist im englischen Sprachraum unter dem Begriff „redpoint“ bekannt.
Unabhängig davon welche Freikletterdisziplin man ausübt, ist der Rotpunkt einer Route immer das Ziel. Nur dann gilt sie als geschafft. Im Gespräch unter Kletterern wird üblicherweise der Begriff Durchstieg verwendet, wenn man von einer Rotpunkt-Begehung einer Route spricht.
Der feine Unterschied zwischen Freiklettern, Free Solo und free climbing
Die Begriffe free climbing und Free Solo werden gerne mal, vor allem von Journalisten, gleichbedeutend in einen Topf geworfen. Wir wissen bisher, was Freiklettern (= free climbing) ist und dass der Begriff erstmal nichts darüber aussagt, ob man die Kletterei irgendwie mit Seilen und Ausrüstung absichert oder nicht.
Man muss, aber ganz scharf unterscheiden zwischen Freiklettern und dem Begehungsstil Free Solo. Beim Free Solo praktiziert man das Freiklettern, jedoch wird bewusst auf jegliche künstliche Sicherung verzichtet und das Leben ist davon abhängig, ob man einen Durchstieg ohne Sturz durchziehen kann oder nicht. Die allerallerwenigsten Kletter praktizieren Free Solo, jedoch ist es einfach zu begreifen und schwer medienwirksam. Daher ist es die medial meistbemühte Disziplin des Kletterns.
Einen solchen Patzer hat sich beispielsweise der Malik Verlag bei der deutschen Übersetzung der Autobiographie von Lynn Hill geleistet. Es wird auf wer weiß wie vielen gedruckten Exemplaren behauptet, dass Lynn Hill die Nose am El Capitan seilfrei erstbeging. In dieser Amazonbeschreibung findet man den Original-Klappentext*.
Ganz nebenbei: Absolute Leseempfehlung. Eine Reise durch die Anfänge des modernen Kletterns und seine Helden und vor allem Heldinnen.
Vorstiegsklettern, Toprope und Co. – Begehungsstile im Freiklettern
Wer sich als Kletterer im Rahmen der Rotpunkt-Definiton bewegt und seine Leistung misst (also beinahe alle) ist mit mehreren möglichen Begehungsstilen konfrontiert. Ihnen wird jeweils unterschiedlich viel Wert beigemessen.
Für die meisten (oft verängstigten) Anfänger stellt sich vor dem Einstieg in jede Route die Frage „Vorstiegsklettern oder lieber doch im Toprope?“. Beim Vorstiegsklettern klippt man das Seil bei passieren von Sicherungspunkten in diese ein und klettert bis zum Umlenker (letzter Haken) oder steigt oben aus. Bei einem Sturz landet man die selbe Strecke, die man über dem letzten Sicherungspunkt gestanden hat unter dem besagten Sicherungspunkt + die Länge von eventuell vorhandenem Schlappseil.
Beim Toprope befindet sich bereits ein Seil in der Umlenkung, dass zu einem herabhängt und in das man sich einbindet. Die möglichen Stürze sind daher minimal. Der übliche Einstieg ins Klettern findet im Toprope statt und viele Kletterer entwickeln anschließend den Wunsch Routen selbst im Vorstieg zu klettern. Eine Topropebegehung einer Route zählt nicht als Rotpunkt. Oft übt man die Bewegungen und Abläufe schwieriger Routen im Toprope ein bevor man sie im Vorstieg angeht um sich den Rotpunkt abzuholen.
Unterschied Toprope und Nachstieg
Die Begriffe Toprope und Nachstieg werden oft gleichbedeutend verwendet. Der Nachstieg kommt allerdings eigentlich aus dem alpinen Raum, wo eine Route meist mehrere Seillängen aufweist. Dabei klettert der Seilerste im Vorstieg eine Seillänge hinauf, befestigt sich und sichert den Seilzweiten im Nachstieg zu sich herauf. Üblicherweise steigt nun der ehemalige Nachsteiger die nächste Länge vor und sichert wieder den Zweiten nach zu sich herauf.
Unabhängig von der Disziplin, sei es Sportklettern oder Trad-Klettern, kann man Routen im Rotpunktstil onsighten und flashen oder einfach nur durchsteigen. Ich erkläre ich dir im nächsten Abschnitt die kleinen, aber feinen Unterschiede.
Onsight und Flash im Klettern
Ein Onsight einer Route gilt als die Königsdisziplin im Rotpunklettern.
Dabei kann man Onsight in etwa mit „auf den ersten Blick“ übersetzen. Das bedeutet, dass man vor einem erfolgreichen Durchstieg einer Route keine weiteren Informationen besitzt, außer dem was man vom Boden aus sehen und sich selbst vorstellen kann, die einem beim Durchstieg helfen könnten.
Damit ist zum Beispiel das Wissen über die richtigen Bewegungsfolgen, spezielle Eigenschaften der Griffe und gute Rastpositionen gemeint, die man sich beim Einüben einer Route verschafft.
Vor einem Onsight sieht man sich die Route des Begehrens genau an, trifft anhand der Griffe und Chalkspuren und anderer Faktoren gewisse Annahmen, auf denen man sich vorstellt, wie die Route zu klettern ist. Je nachdem, wieviel Glück oder Erfahrung man hat treffen diese Annahmen zu und man kann bei ausreichender Kraft und Ausdauer die Route im ersten Versuch ohne Vorwissen, also Onsight klettern.
Man hat nur einen einzigen Versuch für einen Onsight. Hört sich schwierig an? Ist es auch. Deshalb wird Onsight auch als wertvollste Begehungsform einer Route betrachtet. Die schwersten Onsights bisher wurden von Alex Megos und Adam Ondras jeweils im Grad 9a geklettert.
Natürlich kann man auch einfach so in eine Route einsteigen und hoffen zufällig die richtigen Entscheidung unterwegs zu treffen. Dies ist die übliche Herangehensweise für Onsight, jedoch wird man auf diesem Wege nicht das selbe Onsightniveau erreichen können, wie mit entsprechender Vorbereitung.
Es ist üblich jeder Route, die man gerne klettern würde im Onsight zu probieren, denn „es könnte ja klappen“. Bei Versagen tüftelt man die Schwierigkeiten dann von Haken zu Haken aus und holt sich anschließend den Durchstieg (einfach nur Rotpunkt oder Durchstieg genannt).
Flash
Bei einem Flash klettert man eine Route genauso, wie beim Onsight im ersten Versuch, aber: mit allen möglichen Informationen, denen man habhaft werden kann. Man kann andere Kletterer in der Route beobachten, sie ausfragen über jede Einzelheit, Internetforen durchkämmen und so weiter. Man kann sich wirklich jeden Griff und Tritt genauestens beschreiben lassen.
Das einzige, was man vor einem Flashversuch nicht darf, ist natürlich in die Route einsteigen und die Griffe selbst anfassen.
Dem Flash einer Route wird weniger Wert als einem Onsight beigemessen, allerdings hat man die Route immernoch im ersten Versuch geklettert. Deshalb gilt ein Flash weiterhin als wertvoller als ein normaler eingeübter Durchstieg.
Eingeübter Durchstieg = Rotpunkt einer Route
Hat der Onsight oder Flash einer Route nicht geklappt, muss man diese eben solange austüfteln und einüben bis man sie sturzfrei durchsteigen kann.
Das Schwierigkeitslevel, dass man im Onsight und Flash erreichen kann, liegt für die allermeisten Kletterer unter dem eigentlichen Maximum ihrer Fähigkeiten. Dieses erreicht man durch genaues Austüfteln jeder Bewegung, Übung und Planung der Route.
Wenn man genug weiß und glaubt, dass man die Route durchsteigen könnte, fängt man an Rotpunktversuche zu klettern. Oft landet man dabei ein paar mal im Seil bis man es irgendwann schafft und etwas individuell schwieriges geklettert ist.
Diesen Ablauf nennt man Projektieren und es ist eine Mischung aus Nervenspiel, Strategie und Fitnesstest.
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✔ Inspiration ✔ Training ✔ Kein Bullshit
Ein Blick in die Vergangenheit: Die antiquierten Begehungsstile Yoyo und a. f.
Vor der weitläufigen Übernahme der Rotpunkt-Definition haben sich, je nach Ort und Zeit, die Auffassungen darüber unterschieden, wann eine Route als geschafft galt.
Im englischsprachigen Raum galt vor dem Rotpunkt der Yoyo-Stil als die anerkannte Maxime. Dabei kletterte man frei, legte selbst Sicherungen oder klippte vorhandene Haken bis zu einem Sturz. Danach wurde man sofort zum Boden abgelassen. Jedoch beließ man das Seil für den nächsten Versuch in den bereits geklippten Sicherungen, sodass dieser Teil nun Toprope geklettert wurde. Ein Einstudieren oder genaueres Untersuchen von Kletterstellen war nicht zulässig. Ein Sturz bedeutete sofortiges Ablassen und man musste es eben nochmal versuchen. Dieses Spiel wurde solange wiederholt bis man am Umlenker angekommen oder oben aussgestiegen war.
Zu Beginn des Rotpunkzeitalter maß man darüber hinaus der Rotkreis-Begehung oder auch a. f. („alles frei“) genannt, gewissen Wert bei. Dabei kletterte man alle Bewegungen einer Route frei im Vorstieg, durfte jedoch in den vorhandenen Sicherungen sitzend ruhen. Heutzutage kann man mit Begehungen in diesem Stil des Vorstiegskletterns keinen Blumentopf mehr gewinnen. Jedoch wird sich zeigen, was die Zukunft bringt und, wie sich die Ethik im Klettersport weiterentwickeln wird. Vielleicht gilt irgendwann der Rotpunkt dann als überholt und wird belächelt.
Sonderform: Headpoint im Tradklettern
Im Tradklettern gibt es ein breites Spektrum an Sicherheit in den jeweiligen Routen. Es gibt Routen, wie z. B. unverändert parallele Risse in denen man an jeder beliebigen Stelle eine Sicherung unterbringen kann. Am anderen Ende des Spektrums liegen allerdings die bekannten und berüchtigten Herausforderungen im Tradklettern, die oft nur marginale bis lächerliche Sicherungsmöglichkeiten bieten.
Ist es nicht dumm, eine Route zu klettern in der man sich ernsthaft verletzen kann? Für viele ist das gerade der Reiz an der Sache. Die eigene Situation vollständig zu kontrollieren und zu wissen, dass man nicht stürzen wird. Wie also vorgehen? Headpoint!
Unter Headpoint versteht man, dass ausgiebige Einüben einer Trad-Route im Toprope bis man sich zutraut im Vorstieg, bei selbständigen Anbringen der Sicherungen nicht mehr zu stürzen. Sicherheit durch Übung des Kletterns statt durch Bohrhaken. Ein ansprechendes Konzept oder?